Sage und schreibe über 60 Jahre ist es her, dass in der Universitätsstadt Jena junge Leute studierten, die noch heute miteinander befreundet sind und sich Jahr für Jahr mit wechselnden Reisezielen zu interessanten und amüsanten Absolvententreffen mit ihren Partnern zusammenfinden. Zwar haben sich im Laufe der Jahre die Reihen etwas gelichtet, doch noch immer kommen jedesmal etwa 15 Teilnehmer aus Thüringen, Sachsen, Brandenburg und Berlin zu diesen beliebten Klassentreffen ehemaliger ABF-Studenten der Friedrich-Schiller-Universität Jena zusammen. Darunter auch der Autor dieser Zeilen.
Für alle, die mit den drei Majuskeln „ABF“ nichts oder nur wenig anfangen können, hier eine kurze Erläuterung: Die drei Großbuchstaben „DDR“ kennen alle. Mit „ABF“ sieht das sicher schon etwas anders aus. Dabei gibt es zwischen den beiden Abkürzungen durchaus einen Zuammenhang. Die Arbeiter-und-Bauern-Fakultät, eben kurz ABF genannt, gehört nämlich zu den historischen Bildungsleistungen – manche sagen auch Errungenschaften – der frühen DDR. Für Deutschland war die 1949 begonnene Bildung von Vorstudienanstalten an den Universitäten und Hochschulen durchaus etwas Neuartiges, ja Revolutionäres. Denn diese Einrichtungen, später in Arbeiter-und-Bauern-Fakultäten umbenannt, waren eine in der neuen Gesellschaft willkommene Alternative zur bügerlich-exklusiven Hochschulbildung.
Sie ermöglichte erstmals Kindern aus einfachen Verhältnissen, insbesondere eben aus Arbeiter- und Bauernfamilien, in zwei- oder drei Studienjahren den Erwerb der Hochschulreife (Abitur). Von 1949 bis zum ABF-Ende 1963 absolvierten immerhin über 30.000 junge Leute diese Fakultäten, um danach an Universitäten und Hochschulen weiter zu studieren. Übrigens, vom ABF-Studium am Beispiel der Uni Greifswald handelt ja der seinerzeitige Erfolgsroman „Die Aula“ (1965) des DDR-Schriftstellers Hermann Kant, der dort selbst studiert hat. ABF-Absolventen waren auch andere Prominente, wie z. B. der Historiker Laurenz Demps und der Schauspieler/Theatermann Peter Sodann.
Zu den Jenenser ABF’lern, die es beruflich weit gebracht haben, gehörte jedoch auch der letzte Erfinder der DDR, nämlich Dr. Dieter Mosemann. Am 2. Oktober 1990, dem letzten Tag vor Beginn der Deutschen Einheit, meldete er beim Patentamt der DDR unter der Nummer DD 298536 seine Erfindung – ein kleines Bauteil für eine große Maschine – an. Insgesamt hat der innovative Diplom-Ingenieur Mosemann 155 Erfindungen, davon 71 in der DDR, zum Patent angemeldet. Schön, dass der heute nördlich von Berlin lebende leidenschaftliche Techniker agil und vital geblieben ist und auch als „Stammgast“ des ABF-Treffens in diesem Jahr mit seiner Partnerin wieder dabei war.
Wie verlief es nun – das diesjährige Absolvententreffen? Bestens organisiert von den gestandenen Jenenser 80plus-Männern Manfred Bächstädt, Wolfgang Tänzer und Hubert Lauterbach ging es diesmal in die wunderschöne Saale-Unstrut-Weinbauregion.
Erstes Ziel mit Übernachtung in dem direkt an einem Weinberg idyllisch gelegenen „Hotel Rebschule“ ist das charmante Städtchen Freyburg/Unstrut. Umgeben ist es von sanften Hügeln und weitläufigen Weinhängen. Sofort überkommt einem das Gefühl, in eine andere Zeit versetzt zu sein, wo die Uhren langsamer ticken und der Duft von Trauben in der Luft liegt.
Zu einem Aufenthalt in Freyburg gehört natürlich ein Besuch in der legendären Rotkäppchen-Sektkellerei, die ein informatives modernes Besucherzentrum unterhält. Bei einer Führung erfährt man viel Fesselndes zum Weinbau, zum Werdegang der berühmten Marke bis zu dem Moment, wenn man in den kühlen, beeindruckenden Keller mit seinen riesigen Holzfässern eintaucht. Höhepunkt ist natürlich die Verkostung, bei der die feinen Perlen des Sekts im Glas ein spritziges Erlebniis garantieren, während die besten Geschichten über die Sektproduktion zu hören sind. Abschließend kann man im Verkaufssalon prickelnde Souvenirs erwerben.
Ebenfalls ein Muss in Freyburg sind ein Spaziergang durch die gepflegte Stadtmitte und Wanderungen in der sanft hügeligen Weinbau-Landschaft. Für sportliche Naturen bietet die Umgebung ideale Bedingungen für Radtouren entlang der Unstrut.
Aber Freyburg hat auch buchstäblich ein bauliches Highlight: das oberhalb des Städtchens auf einem Bergrücken thronende, weithin sichtbare Schloss Neuenburg mit seiner majestätischen Silhouette und dem solitär daneben stehenden 23 Meter hohen Steinturm „Dicker Wilhelm“. Dorthin kann man mit dem Auto fahren oder hinauf kraxeln, recht günstig zum Beispiel von dem bereits erwähnten Ferienhotel „Rebschule“ aus. Oben eröffnen sich atemberaubende Ausblicke auf das pittoreske Winzerstädtchen Freyburg und die umliegenden Weinlandschaften.
Die im 11./ 12. Jahrhundert errichtete Neuenburg gilt heute als größte Burg in Sachsen-Anhalt und war eine der wichtigsten Bauwerke der Landgrafen von Thüringen. „Es gibt historisch eine enge Verwandschaft mit der berühmten Wartburg bei Eisenach“, erklärt Führerin Kathrin Böhm und verweist u. a. auf die Heilige Elisabeth von Thüringen, die sich oft auf der Neuenburg aufhielt. Die oberirdisch noch erhaltenen Steinbauten und Mauerwerke aus dem Ende des 11. bis Anfang des 13. Jahrhunderts seien architektonsich von großer Bedeutung. Die Guide führt unsere Gruppe zunächst zu einem besonderen Kleinod: die um 1180 errichtete Doppelkapelle mit ihrer außergewöhnlichen Bauzier. Weiter geht es zum Turmgemach mit dem gruseligen Gespenst Adelheid im Verlies, zum Kirchensaal vor der Oberen Kapelle, zur privaten Kapelle der Burgherren mit dem hölzernen Altaraufsatz, der schöne goldfarbene Figuren zeigt. Ein besonders wertvoller Schatz ist die Skulptur der Landgräfin Elisabeth von Thüringen aus der Zeit um 1380. Fotografieren freilich verboten!
Das Schlossmuseum birgt auch die sehenswerte Ausstellung „Wunderwerk Taschenuhr“ mit einer Vielzahl wunderschöner alter Chronometer. Und schließlich lohnt es sich, in den vom Hof aus erreichbaren alten Gewölbe-Weinkeller hinabzusteigen. Dort ist neben rustikalen Holzfässern, Traubenpressen und anderen Gerätschaften der Weinbranche ein großes Modell von Freyburg inklusive der vielbesuchten imposanten Neuenburg zu sehen.
Unser touristisch-kultureller Erkundungstrip durch die Saale-Unstrut-Region führt uns nun in das 22 Kilometer von Freyburg entfernten Städtchen Nebra, das ebenfalls an der Unstrut liegt. Nebra? Da war doch was! Na klar, hier wurde auf dem nahen Mittelberg, wo ein 30 Meter hoher Aussichtsturm steht, 1999 die weltberühmt gewordene Himmelsscheibe von Nebra entdeckt. Und zwar von zwei Raubgräbern, die später verurteilt wurden. Nach Sicherstellung des Fundes im Jahr 2002 ging seine spektakuläre Geschichte um die Welt.
„Vor über 3600 Jahren geschmiedet, ist die Himmelsscheibe von Nebra die älteste konkrete Darstellung des Kosmos weltweit und hat unser Bild von der Bronzezeit revolutioniert“, erläutert Museumsführer Dietmar Luther beim Rundgang durch die „Arche Nebra“. So heißt das an einem Hang kühn ins Land hineinragende, futuristisch wirkende geschwungene Ausstellungsgebäude, das 60 Meter lang, 15 Meter breit ist und auf drei Stützen ruht, die eine Last von 800 Tonnnen zu tragen haben.
Dieses hochmoderne Besucherzentrum mit Café und Terrasse quasi am Fundort der Himmelsscheibe.ist ein wahrer Publikumsmagnet, der seit der Eröffnung im Juni 2007 bisher über eine Million Besucher angezogen hat. Die vielgestaltige, außergewöhnliche Präsentation, durch die uns kenntnisreich und humorvoll Dietmar Luther führt, bietet neben Texten und Bildern virtuelle Figuren, die durch die Vitrinen geistern, Filme, Comics und sogar ein Kasperletheater. Interessant zu wissen, dass in der „Arche Nebra“ lediglich eine Replik der Hiimmelsscheibe zu sehen ist. Das Original – eine kreisförmige Bronzeplatte mit Applikationen aus Gold – ist einzig und allein im Landesmuseum für Vorgeschichte in der nahe gelegenen Stadt Halle an der Saale zu bewundern.
Um die Astronomie und Bedeutung der Himmelsscheibe richtig zu verstehen, sollte unbedingt auch das kleine, aber feine Planetarium im Hause besucht werden. „Schon in der frühen Bronzezeit war man mit der Himmelsscheibe in der Lage, Kalendertermine zu bestimmen und den Sonnen- mit dem Mondkalender zu verbinden“, hebt unser Guide den damaligen praktischen Nutzen der Scheibe hervor. Kein Wunder, dass die Himmelsscheibe von Nebra seit 2013 zum UNESCO-Weltdokumentenerbe gehört.
Gleichfalls historisch bedeutungsvoll wird es auf der nächsten Station unserer kleinen Saale-Unstrut-Reise. Es geht in den nordwestlich von Naumburg/Saale liegenden Ort Memleben. Touristischer Anziehungspunkt dort ist das weitläufige „Museum Kloster und Kaiserpfalz Memleben“. Hier prägten im Mittelalter die Mächtigen des Reiches – von Otto dem Großen bis Heinrich den II. – die Geschichte des Benediktinerklosters und der ottonischen Kaiserpfalz. Heute sind noch imposante Relikte zweier Klosteranlagen zu besichtigen, insbesondere die Reste einer Monumentalkirche aus dem 10. Jahrhundert und eine frühgotische Kirchenruine aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Aus jüngerer Zeit ist noch die Stille bietende spätromantische Krypta im Originalzustand erhalten. Gut zu verweilen ist auch im gepflegten mittelalterlichen Klostergarten mit Blick auf die romantische Kirchenruine. Das Museum bietet instruktive Führungen durch die fantastische Anlage und ihre verschiedenen Ausstellungen an. So gibt es im Ostflügel der Klausur die innovative Dauerausstellung „Wissen + Macht. Der heilige Benedikt und die Ottomanen“. Hier kann man eine Zeitreise durch 1700 Jahre Geschichte erleben.
Wer eigenständig unterwegs sein möchte, kann sich einen Audioguide ausleihen. Unbedingt empfehlenswert: die über eine Treppe erreichbare Aussichtsplattform, die einen Blick von oben auf die ottonische Kirche aus dem 10. Jahrhundert ermöglicht. Auch an das leibliche Wohl der Besucher ist gedacht. Im Neuen Refektorium werden Kaffee und Kuchen sowie Weine und ein Imbiss angeboten. Besonders beliebt ist die leckere Klostersuppe.
Nun ja, nach soviel geistigen und leiblichen Genüssen verabschieden wir ABF-Absolventen uns dankbar und frohgemut aus Memleben. Am Abend steigt im Freyburger Hotel „Rebschule“ noch der zünftige Abschiedsabend als lockeres Beisammensein. Auch und gerade nach über sechs Jahrzehnten gibt es sich ja immer noch viel zu „bequatschen“, pardon: zu erzählen. Und morgen nach dem Frühstück stehen überdies zwei weitere Programmpunkte auf der Tagesordnung: das Glockenmuseum in Laucha und die Kaffeerösterei Balgstädt. Bestimmt wird es im nächsten Jahr wieder ein dreitägiges erlebnisreiches Klassentreffen geben…
Text und Fotos (20): Manfred Weghenkel
Hinweis: Das Titelbild dieses Beitrages – eine phantasievolle, leicht surreale Darstellung der Winzerstadt Freyburg mit Unstrut, Neuenburg und Weinberg – wurde von mir mittels Künstlicher Intelligenz (KI) kreiert.
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